Ohne Schriftguss kein Handsatz und kein Buchdruck: Der letzte Schriftgießer der Welt im Interview

Rainer Gerstenberg, der letzte kommerziell arbeitende Komplettguss-Schriftgießer der Welt, stellt zum 31. 12. 2021 seine Produktion in den Räumen des Hessischen Landesmuseums in Darmstadt ein.

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„Japan, ja, wenn man dann die Resonanz dort hört, dass Alt und Neu ganz normal nebeneinander arbeiten ohne in Konkurrenzkampf zu treten, und dass diese alten Gewerbe, der „Letzte seines Standes“, hochgehalten werden, und nicht sozusagen als Schuhabtreter genommen werden“. (Interview Gerstenberg 25. Oktober 2018, Minute 23:20)

Am 25. Oktober 2018 gab Rainer Gerstenberg ein gut einstündiges Interview, das seit Mai 2021 auf Youtube veröffentlicht ist. Hier geht es zum Video.

Wir haben das in Youtube hinterlegte Transkript nochmal überarbeitet und die Fragen des Interviewers, die nur als Untertitel im Video erscheinen, eingefügt. Hier geht es zum Transkript des kompletten Interviews.

Hören- und lesenswert ist das Interview in vielfacher Hinsicht. Rainer Gerstenberg, geb. 1947 als Sohn eines Friseurs in Frankfurt-Sachsenhausen, ist ein begnadeter Erzähler. Er nimmt uns mit in seine Lehrzeit bei der D. Stempel AG und verdeutlicht mit wenigen Worten auch die Langeweile, die die Arbeit im Akkord bedeutete. Er lässt uns spüren, welches umfangreiche Wissen er sich nach seiner Lehrzeit aneignen musste, um heute 40 Maschinen lauffähig zu halten und Millionen von Matern zu verwalten und für verschiedene Branchen und Anwendungsgebiete zu produzieren. Er liefert an Etikettendruckereien und an neu gegründete Buchdruckwerkstätten. Und er liefert weltweit und in allen Schrifthöhen. Lagerschriften produziert er „lagerhoch“, und erst beim Verkauf richtet er die Höhenfräsmaschine für die bestellte Schrifthöhe ein. Fachlich bietet er für mich als Buchdruckerin viele neue Details. So wusste ich vorher nicht, dass Monogießschriften zwingend aus weicherem Material sein müssen: Der „Kolbenschlag“ auf Monogießmaschinen ist verfahrensbedingt immer gleich stark. Im Komplettguß wird jeder Buchstabe einzeln eingerichtet. Der Kolbenschlag kann so dem zu produzierenden Buchstaben angepasst werden. Ein i bekommt einen anderen Schlag als ein dickes m. So kann man mit einer härteren Legierung gießen und erreicht eine höhere Haltbarkeit.

Mit der Liquidation seines Lehrbetriebes 1986 schließt sich eine Zeit an, die ihn heute zum „Letzten seines Standes“ macht. Er entschließt sich, seinem Lehrberuf treu zu bleiben. Mangels Alternativen musste er dazu zwangsläufig Unternehmer werden. Und politisch agieren. Es gelingt ihm, Förderinnen und Förderer zu finden, um die Bestände sowohl der D. Stempel AG als auch der Haas’schen Schriftgießerei bis heute zu erhalten.

Gerne wäre Rainer Gerstenberg auch Ausbilder geworden und hätte Nachwuchs für sein Unternehmen eingearbeitet. Doch ist er Realist genug zu wissen, dass das Gewerbe langfristig nur mit Unterstützung der öffentlichen Hand erhalten bleiben kann.

Doch „man wacht immer erst auf, wenn alles weg ist, und dann will man das wieder neu beleben. Das ist etwas, was ein Riesenfehler [hier in Deutschland] ist“ (Minute 27:12).

Was bedeutet der Verlust des letzten Komplettschriftgießers der Welt für all diejenigen, die heute oder morgen in Hochschulen, Museen und Werkstätten „im Blei“ lehren, vermitteln, setzen und so handwerklich-künstlerisch den Handsatz und Buchdruck lebendig halten? Es ist nicht nur ein kulturgeschichtliches Desaster.

„Erhalt durch Produktion“. Dieses Mantra gilt für viele handwerkliche Berufe. Wir können sie nur vermitteln, wenn wir es aktiv tun.

„Wenn ich hier Leute durchführe und habe keine Maschine laufen, dann ist es schlimm. Wenn die aber sehen, dass aus der Maschine Buchstaben kommen, dahinten hast du heißes Blei und vorne kommt ein Buchstabe raus, der dann sozusagen eine Form hat. Und wenn ich sehe, dass hinten 380 Grad sind und vorne kann ich den Buchstaben schon in die Hand nehmen und kann den zurichten, die sind fasziniert. Aber nur, wenn es läuft. Ich kann denen nicht einfach die Maschinen hinstellen. Das gibt es mehr als genug“ (Minute 68:01).

Beim Komplettschriftguß ist der Verlust der Produktion aber viel tragischer als die fehlende lebendige Vermittelbarkeit. In Museen, wie zum Beispiel im Museum für Druckkunst Leipzig, werden auch zukünftig Komplettgießmaschinen vorgeführt werden. Nur wird man mit den dabei erstellten Lettern nicht setzen können. Dazu reicht die Qualität bei Weitem nicht aus.

Wenn aber die professionelle Produktion von Lettern für den Handsatz nicht mehr möglich ist, dann wird auch der Handsatz und Buchdruck mittelfristig nicht mehr lebendig vermittelbar sein. Denn Setzen und Drucken heißt immer auch, einzelne Buchstaben im Prozess zu zerstören. Nur das Wissen, dass man nachkaufen kann, erlaubt die mutige Verwendung. Was tun, wenn, wie kürzlich geschehen, eine ganze Schrift unnütz wird, weil Interpunktionen fehlen?

Machen wir uns die entstehende Lücke in der Wertschöpfung bewusst: Noch sind die Matern da und praktisch unkaputtbar. Und wenn sie mal beschädigt werden sollten, dann sind sie durch Nachfräsen wieder herstellbar. Auch können zukünftig neue Schriften als Negativgießformen durch Fräsen hergestellt werden. Eine „Rekonversation“ von digitalen Schriften zu Bleisatzschriften ist von der Gießform her möglich.

Die empfindlichen Bleilettern aber in den Werkstätten von Hochschulen, Museen und Künstlerwerkstätten sind ziemlich leicht „kaputtbar“. Und sie sind nicht mal eben kurz nachgegossen. Es ist doch gerade die professionelle Serienproduktion, die zu Gutenbergs Kernerfindung gehört und durch die Mechanisierung professionalisiert wurde.

Noch sehen viele das entspannt, gibt es doch eine bleischwere Menge an Lettern in zahllosen geretteten Werkstätten und Kellerräumen. Über Facebook und Mailinglisten, wie zum Beispiel die vom Verein für die Schwarze Kunst e. V., können die Auflösungen bekannt gemacht werden. Aber solche privaten Sammlungen müssen, meist aus Alters- und/oder Platzgründen, von heute auf morgen aufgelöst werden. Keiner braucht aber genau das dann in dieser Sammlungsform und Menge in diesem Moment. Und keiner wird mir die fehlende Interpunktion aus der Masse heraussuchen, um meinen Bestand zu ergänzen. Es gibt keine Rettung vor dem Schrotthandel, und es gibt keine einzeln zu kaufenden gebrauchten Lettern.

Beglückt, dass es noch den Schriftguss gibt, war ich vor wenigen Wochen. Ich erwarb von der Tochter des letzten Inhabers der ehemaligen Buchdruckerei Wenzel in Berlin die interessante Schattenschrift „Graphique“ von 16 bis 36 Punkt. Die 48 Punkt hatte sie ärgerlicherweise schon vorher abgegeben, und ich dachte, ich hätte keine Aussicht, die Garnitur vollständig zu haben. Doch dann sah ich sie bei Rainer Gerstenberg. Nun ist mein Schatz vollständig.

2018 besuchte ich das 1992 eröffnete Early Printing Museum in Cheongju, Südkorea. Es wurde zu Ehren des ersten erhaltenen mit metallischen Lettern gedruckten Buches der Welt errichtet, dem Jikji. Das war über 70 Jahre vor Gutenberg. Bis heute wird erforscht, wie genau die Lettern für das Jikji hergestellt wurden, entweder im Wachsausschmelzverfahren oder im Sandguß. Sicher ist aber, dass, wie die Archäologen sagen, mit einer „verlorenen Form“ gegossen wurde.

Gutenbergs Erfindung ist damit, wie wir heute wissen, nicht die bewegliche Letter aus Metall. Es ist die wiederverwendbare Gussform und damit die Möglichkeit zur Serienproduktion.

Die Industrialisierung hat diese Serienproduktion mechanisiert. Welche Ehre wäre es, der Welt dieses Verfahren zu erhalten. Damit es nicht Generationen nach uns wieder rückentdeckt werden muss.

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